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Digitalisierung als oberste Priorität der Justizpolitik

Dirk Hartung und Sven Störmann sprechen über den Stand und die Rolle der Digitalisierung in der Justiz und juristischen Ausbildung



Neben politischem Willen und ausreichenden Mitteln bedarf es einer klaren Strategie und sinnvoller Governance-Strukturen, damit die deutsche Justiz den Rückstand im Bereich Digitalisierung aufholen und das Vertrauen der Bürger*innen in staatliche Streitbeilegung erhalten kann.

 

Die deutsche Justiz ist eine der besten der Welt. Deutschland zählt laut Rule of Law Index des World Justice Projects bei der Gewährung von rechtlichem Gehör und der Durchsetzung des Rechtsstaats zur absoluten Spitzengruppe (2021: Platz 5) mit positiver Tendenz (2020: Platz 6). Gleichzeitig zeigt eine neue Studie von der Bucerius Law School, Boston Consulting Group und dem Legal Tech Verband Deutschland, dass Deutschland bei der Digitalisierung der Justiz den Anschluss verliert.

 

Unsere Justiz lebt offenbar von der Substanz und steht insgesamt vor großen Herausforderungen. Dazu zählt vor allem, dass Gerichtsverfahren so schnell und so stark an Komplexität gewinnen, dass sie ohne digitale Arbeitsprozesse mittelfristig nicht mehr in einem sinnvollen Zeitraum abgeschlossen werden können. Am Ende steht nicht weniger als das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Rechtsstaat auf dem Spiel. Seit Jahren sinkende Klageeingangszahlen in der Zivilgerichtsbarkeit geben Hinweise auf einen beunruhigenden Trend, dessen Ursachen noch weitgehend unerforscht sind. Dass grundsätzlich Handlungsbedarf erkannt wurde, drückt sich derzeit auf verschiedene Ebenen aus: Der Koalitionsvertrag spricht von schnelleren und effizienteren Gerichtsverfahren und digitalen Verfahren und der Justizminister von einem Ordnungsrahmen zur Digitalisierung der Justiz. Im Bundesministerium der Justiz gibt es eine neue Abteilung D (wie Digitalisierung), im Süden der Republik treiben Baden-Württemberg und Bayern eine gemeinsame Digital-Offensive voran und die Richterschaft signalisiert nicht nur Offenheit, sondern bietet konkrete Handlungsoptionen: Die LAG-Präsidentinnen und -Präsidenten legen mit den Kieler Reformvorschlägen einen Aktionsplan vor und ihre Kolleginnen und Kollegen an den Oberlandesgerichten machen Vorschläge zur Modernisierung des Zivilprozesses. Wissenschaftlich werden diese Entwicklungen unter anderem durch die eingangs erwähnte Studie zur Digitalisierung der Justiz an der Bucerius Law School begleitet.

 

Damit aus diesen vielen Bestandteilen am Ende eine erfolgreiche Justizreform werden kann, bedarf es einerseits einer klaren Strategie und andererseits eines passenden rechtlichen Rahmens. Zur Strategie gehört zunächst die Ambition, Deutschland auch bei der Justizdigitalisierung auf die vorderen Plätze zu bringen. Sie muss sich darin ausdrücken, dass die Digitalisierung bei allen Reformvorhaben sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene höchste Priorität genießt. Im nächsten Schritt sollten Governance-Mechanismen geschaffen werden, die sicherstellen, dass auf allen Ebenen koordiniert und bewusst Veränderungsmanagement durchgeführt wird. Zuletzt braucht es Ressourcen in erheblichem Umfang – Großbritannien etwa lässt sich die aktuelle Justizreform über 1,2 Mrd. Pfund kosten. Der richtige Mechanismus ist der an den Pakt für den Rechtsstaat anknüpfenden Digitalpakt für die Justiz, der zeitnah umgesetzt werden muss. Zum rechtlichen Rahmen gehören neben offensichtlichen Anpassungen bei den Prozessordnungen Veränderungen in der Gerichtsorganisation, im Vergaberecht, der Beamtenbesoldung und in der juristischen Ausbildung.

 

Personell muss die Justiz diverser aufgestellt werden. Das bedeutet nicht, dass es keinen Platz mehr für (insbesondere interdisziplinär ausgebildete) Juristinnen und Juristen gibt. Aber sie sollten Seite an Seite mit Softwareentwicklern, Administratoren und Designern in multidisziplinären Teams arbeiten. Entsprechend qualifizierten Bewerben wird man ob ihres hohen Marktwerts mehr als die derzeit übliche Besoldung anbieten müssen. Um schließlich eine produktive und reibungslose Zusammenarbeit zu gewährleisten, müssen technische Grundlagen zu festen Bestandteilen der Juristenausbildung werden.

 

Auch wenn der Föderalismus andernorts beeindruckende Beispiele für Digitalisierung in der Justiz hervorgebracht hat, sollten wir überdenken, ob wirklich bei jeder technischen Entscheidung 16 Länder und der Bund mitreden müssen. Sinnvoller erscheint eine Koalition jener Länder, in denen Digitalisierung eine entsprechend hohe Priorität hat und die kostspielige Entwicklung neuer Software finanziell überhaupt unter Koordinierung des Bundes gestemmt werden kann. Nach modernen Prinzipien entsprechend schnell und agil entwickelte Software kann für andere Bundesländer bereitgestellt und so auf Redundanzen verzichtet werden.

 

Dass Deutschland bei der Justizdigitalisierung führenden Nationen eher ein bis zwei Jahrzehnte hinterherhinkt, hat schließlich auch etwas Gutes: Sowohl im Rahmen bestehender internationaler Justizdialoge als auch bei neu geschaffenen Formaten können wir von den Erfahrungen im Ausland (etwa in Singapur, Kanada, Großbritannien oder Österreich) lernen. Dabei können Universitäten – wie unsere Alma Mater – als Orte der Begegnung und wissenschaftliche Impulsgeber unserer Ansicht nach eine bedeutende Rolle spielen.


Sven Störmann (Jg. 2010) ist Direktor des Learning Innovation Labs der Bucerius Law School, dessen Gründung er 2020 initiiert hat. Er ist seit 2015 Leiter der Geschäftsstelle des Deutschen Arbeitsgerichtsverband e.V. und seit 2020 dessen Geschäftsführer. 2021 und 2022 war er als externer Sachverständiger für die Konferenz der Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts und der Präsidentinnen und Präsidenten der Landesarbeitsgerichte tätig.

Dirk Hartung (Jg. 2009) ist Executive Director des Bucerius Center for Legal Technology and Data Science, dessen Gründung er nach Stationen in einer medienrechtlichen Kanzlei und als persönlicher Referent des Geschäftsführers der BLS 2020 initiiert hat. Er promoviert an der Leibniz Universität Hannover bei Prof. Dr. Christian Wolff zur Zulässigkeit digitaler Rechtsdienstleistungen und ist Fellow am CodeX – The Stanford Center for Legal Informatics.


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