Ein persönlicher Blick auf die Versammlungsfreiheit
Wie sind Sie darauf gekommen, 1964 für den Master nach Berkeley zu gehen?
Ich wollte schon immer in die USA. Bereits als Schüler hatte ich mich um die Teilnahme an einem Austauschprogramm mit einer amerikanischen Schule beworben. Damals ohne Erfolg. Während der Hausarbeit zum 1. Staatsexamen wurde ich von der Studienstiftung, deren Stipendiat ich war, angesprochen, ob ich an einem Förderprogramm für ein Masterstudium in den USA teilnehmen möchte. Damals hatte die Studienstiftung zu wenig Bewerber dafür. Die Wahl der Universität stand mir frei. Als Entscheidungshilfe habe ich die Klimakarte der USA studiert. Die Wahl fiel auf Berkeley.
Was haben Sie 1964 in Berkeley erlebt?
In meinen Vorlesungen habe ich sehr viel über das amerikanische Recht und die amerikanische Rechtswissenschaft gelernt. Zum Beispiel über das Präjudizienrecht und den größeren Pragmatismus der amerikanischen Professorinnen und Professoren im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen. Für mich prägend war auch die Bereitschaft vieler, über den Tellerrand der eigenen Wissenschaft hinaus zu blicken und Empirie verstärkt in die rechtliche Analyse einzubauen. In dieser Zeit habe ich interessante Amerikaner kennengelernt, darunter viele kritische Geister, aber auch manche, deren Wahrnehmungshorizont spätestens an der amerikanischen Grenze endete. Vor allem aber hatte ich das Glück, den Beginn der weltweiten Studentenbewegung von Anfang an mitzuerleben.
Was war der Auslöser für die Demonstrationen auf dem Campus?
Seit Beginn der 50er Jahre galt auf dem Campus der Universität ein Politikverbot. Im Oktober '64 kam es dann zum Eklat zwischen den Studierenden und der Hochschulleitung: Auf einem schmalen Grünstreifen zwischen dem Campus und einer angrenzenden Straße hatten Studenten Tische aufgestellt, auf denen sie Flyer auslegten und Bücher, auch politische, aber keineswegs radikale, verkauften. Die Hochschulleitung intervenierte und verbot die Tische – ohne Erfolg. Dann kam die Polizei und räumte sie weg. Am nächsten Morgen waren die Studenten wieder da. Diesmal mit mehr Tischen.
Auch das Polizeiaufgebot wurde größer. Der Konflikt schaukelte sich in den Folgetagen hoch. Es kam zu Aktionen wie Sit-ins, einer Besetzung des Verwaltungsgebäudes der Universität, einer Blockade der Abfahrt eines Polizeiwagens mit Verhafteten. Die Polizei begann, Studierende in großer Zahl zu verhaften; einmal wurden 800 in einer Turnhalle eingesperrt. In dem anschließenden gerichtlichen Verfahren wurden die Protestler von einem Professor der Law School verteidigt, andere Professoren hinterlegten Kautionen für verhaftete Studenten – es gab also eine große Solidarität auch bei Professoren.
Der Konflikt bekam mehr und mehr öffentliche Aufmerksamkeit und die Anliegen mutierten zum Protest gegen diverse Verkrustungen in der amerikanischen Gesellschaft. Prominente wie Joan Baez und Bob Dylan sangen auf dem Campus. Als engagierter Beobachter habe ich auf dem Campus viel Zeit zum Studium des Lebens und des Rufes nach einer neuen Freiheit verbracht. Ich konnte allerdings nur Beobachter und stiller Fürsprecher sein, da mir Kommilitonen fürsorglich dazu rieten; im Falle meiner Festnahme müsste ich mit sofortiger Ausweisung aus den USA rechnen.
Aber es blieb in der Folgezeit nicht bei einem lokal begrenzten Ereignis…
Richtig! Dabei blieb es nicht. Zu dem Free Speech Movement, das zunächst nur zum Ziel hatte, volle Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit auf dem Campus der University of Berkeley zu ermöglichen, kam wenige Wochen später das Free Sex Movement hinzu. Beide als FSM abgekürzt. Das Free Sex Movement hatte seinen örtlichen Kern in dem nicht weit entfernten Sausalito; es war der Beginn der Hippiebewegung. Deren Protest richtete sich gegen die Prüderie der Elterngeneration und deren verstaubte Lebensauffassungen und er zielte auf sexuelle Befreiung.
Später folgten dann als Drittes die Bewegung gegen den Krieg in Vietnam und Massenproteste gegen die Politik von Präsident Johnson. Es entstand ein Dreiklang der Rufe nach Freiheit, Sex und Frieden. Alles geschah binnen eines Dreivierteljahres. Auch andere Teile der USA wurden von den Bewegungen erfasst. Eindrucksvoller lässt sich die Motivations- und Veränderungskraft der Nutzung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht erleben! Schützenhilfe kam allerdings auch von der Polizei, von ihren unverhältnismäßigen und gewalttätigen Reaktionen. Der Protest aus Berkeley schwappte auch in andere Länder über, so insbesondere nach Frankreich und auch Deutschland.
Wie haben Sie die Entwicklung der Studentendemonstrationen in Deutschland nach Ihrer Rückkehr erlebt?
Protestbewegungen hatte es in der Bundesrepublik auch schon vorher gegeben, etwa gegen die Wiederbewaffnung oder die Atomkraft. Ende der 60er Jahre bekamen sie allerdings eine neuere, breitere Dimension. Ein äußerer Auslöser war der Besuch des persischen Schahs 1967 in Berlin, gegen dessen Politik der Unterdrückung auch Deutsche am Straßenrand protestierten. Sie wurden von persischen Geheimpolizisten – später als „Prügelperser“ bezeichnet – durch brutalen Gewalteinsatz daran gehindert.
Auch die deutsche Polizei ging gegen die Demonstranten vor. Dabei erschoss ein Polizist den Studenten Benno Ohnesorg. Einen weiteren „Höhepunkt“ an Gewaltanwendung und anschließender Solidarisierung im Protest bildete im Folgejahr ein Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke. Er starb an den Folgen. Der Täter, ein Hilfsarbeiter, gab an, er sei u.a. durch die Berichterstattung der Bild-Zeitung zu der Tat angeregt worden. Diese und andere Zeitungen des Springer-Verlags standen ohnehin wegen ihrer von vielen als hetzerisch empfundenen Berichterstattung in der öffentlichen Kritik. Es begannen heftige Demonstrationen gegen die Monopolstellung des Axel-Springer-Verlags sowie Blockaden der Auslieferung der Zeitungen durch Sit-ins.
Haben Sie persönlich daran mitgewirkt?
Nein. Aber ich war dennoch damit befasst. Blockaden der Auslieferung fanden auch in Hamburg statt. Einer der teilnehmenden Studenten war so naiv, dem „Stern“ noch während der Blockade ein Interview über die Gründe seiner Teilnahme zu geben. Damit wurde sein Name öffentlich und er wurde wegen Nötigung und Widerstandes gegen die Staatsgewalt angeklagt. Dieser Student – ich kannte ihn zuvor gar nicht – bat mich, seine Verteidigung zu übernehmen.
Ich war zu dem Zeitpunkt Referendar und deshalb – Sie werden das wissen – eigentlich nicht berechtigt, als Prozessvertreter aufzutreten. Ich leitete damals an der Uni eine Arbeitsgemeinschaft für Anfänger. Dem Gericht gegenüber behauptete ich, damit als Hochschullehrer zu gelten und deshalb nach dem Gerichtsverfassungsgesetz zur Prozessvertretung berechtigt zu sein. Der Amtsrichter ließ das durchgehen und ich trat als Verteidiger auf. Damals wurden die angeklagten Blockierer regelmäßig zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten ohne Bewährung verurteilt – meiner auch, aber auf Bewährung. Auf diesen Erfolg war ich damals mächtig stolz.
Was mich allerdings nachhaltig schockierte, war ein späteres Ereignis. Als ich einmal im Zimmer meines Stationsausbilders war, kam ein Anruf von einem Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, der sich nach einem Referendar Hoffmann, so hieß ich damals, erkundigte. Dass die Verteidigung eines Angeklagten, also das Eintreten für ein rechtsstaatliches Verfahren, dafür ausreichte, die Aufmerksamkeit des Verfassungsschutzes auf mich zu richten, hat mich sehr nachdenklich gemacht.
Gab es Gemeinsamkeiten zwischen den Demonstrationsdynamiken in der USA und in Deutschland?
Die Studentenproteste hatten zwar unterschiedliche Auslöser und Anliegen. Sie waren ein Katalysator für Prozesse der Unzufriedenheit, die lange zuvor begonnen hatten. Übereinstimmend war das Ziel, Versäumnisse der Elterngeneration anzuprangern – in Deutschland etwa die fehlende Aufarbeitung der Nazizeit – und Freiheiten auch dann auszuüben, wenn dies für andere unbequem war. Im Ablauf waren die Proteste nicht auf Reden und Demonstrationen begrenzt, sondern auch geprägt durch Aktionen wie Sit-ins oder durch Besetzung von symbolisch bedeutsamen Räumen. Kennzeichnend waren gruppendynamische Prozesse wachsender Solidarisierung. Es kam zur Aufrüttelung wachsender Teile der Öffentlichkeit. Als Repressionen wahrgenommene Aktionen des Staates steigerten die Entschlossenheit und Vehemenz der Aktivisten. In beiden Ländern war zu beobachten, dass eine politische Bewegung starke Symbole und Bilder braucht, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erfahren. Zum Beispiel Studenten, die sich vor ein Polizeiauto setzen, das einen verhafteten Studenten wegbringen soll.
Welche Rolle hat die Meinungs- und Versammlungsfreiheit für die Entwicklung einer Gesellschaft?
Ohne diese beiden Freiheiten gibt es keine Demokratie und ohne sie droht eine Gesellschaft zu erstarren. Dank ihrer Kombination zur Demonstrationsfreiheit gilt ihr Schutz nicht nur der Äußerung von Worten, sondern auch der Möglichkeit, für ein Anliegen durch Aktionen öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Insbesondere für eine pluralistische Gesellschaft ist es essentiell, dass Vorstellungen über Wünschenswertes und Forderungen nach Wandel geäußert, aber auch von anderen in Frage gestellt werden können. Der Staat hat diese Möglichkeiten zu schützen und dabei zu gewährleisten, dass ihre Wahrnehmung nicht durch Dritte beeinträchtigt wird. Dabei müssen die Staatsorgane inhaltlich neutral bleiben und auch Gruppierungen schützen, die umstrittene, politisch von vielen abgelehnte Auffassungen vertreten. Deshalb hat beispielsweise das Bundesverfassungsgericht darauf zu achten, dass auch Neonazis der Grundrechtsschutz gewährt wird, allerdings – wie auch bei Vertretern anderer politischer Überzeugungen – nicht bei der Überschreitung der Grenze der Friedlichkeit oder bei strafbarem Verhalten.
Wie hat die Versammlungsfreiheit Sie in Ihrem Leben nach Abschluss des Masters in Berkeley begleitet?
Nach meiner Rückkehr aus Kalifornien habe ich den ersten Nachkriegsaufsatz zur Demonstrationsfreiheit geschrieben, der schönerweise immer noch ab und zu zitiert wird [Hoffmann, Inhalt und Grenzen der Demonstrationsfreiheit nach dem Grundgesetz, JuS 1967, S. 393-399]. Später folgten weitere Publikationen zur Versammlungs- und Meinungsfreiheit. In den Jahren nach 1968 war ich wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hamburger Universität und als solcher sympathisierender Beobachter der Studentenbewegung und gelegentlich Vermittler bei Konflikten.
Als Referendar habe ich – jetzt kommt etwas eher Anekdotisches – die vermutlich erste deutsche Juristendemo mitorganisiert. Sie halte allerdings keinem spektakulären, sondern einem eher egoistischen Anliegen: Die Referendare forderten die Einbeziehung der Stationsnoten in die Bewertung beim 2. Staatsexamen. Ich wurde gebeten, eine darauf gerichtete Referendarversammlung zu leiten. Dort wurde ein Aufzug zum Sitz des Justizsenators an der Drehbahn beschlossen, um ihn zur Rede zu stellen. Als der Zug die Caffamacherreihe passieren wollte, schaltete die Ampel auf Rot und die Referendare blieben brav stehen. Nur die unsere Demo an der Spitze begleitenden, Demos gewohnten Polizeibeamten gingen wie selbstverständlich weiter. Auch sonst zeigte sich die Demo-Unerfahrenheit der Referendare.
Immerhin gelang es am Ende dem Referendarausschuss, dem Justizsenator die Zusage abzuringen, sich einer Versammlung der Referendare zu stellen. Auch hier wurde ich gebeten, die Leitung zu übernehmen. Mein Vorhaben war, die Stimmung im Saal „kochen zu lassen“ und so dem Senator deutlich zu vermitteln, dass er dem Anliegen der Referendare stattgeben solle. In der Tat: Die Demostimmung war hervorragend und ich ließ sie laufen. Der Senator deutete dies als mein Versagen als Versammlungsleiter und versuchte mehrfach, mir die Leitung zu entziehen. Das misslang ihm. Nach der Versammlung wurde mir von dem sogenannten Referendarvater, einem mir sehr gewogenen OLG-Richter, die nicht nur scherzhaft gemeinte Einschätzung vermittelt, dass ich mir eine Richterlaufbahn in Hamburg nach diesem Verhalten wohl abschminken könne.
Das hat Sie ja zum Glück nicht aufgehalten…
Ich hab's in Hamburg allerdings auch nicht versucht. Später kam dann die Berufung nach Karlsruhe. Das Thema Versammlungsfreiheit hat mich auch am Bundesverfassungsgericht nicht losgelassen. Denn ich war Berichterstatter u.a. für Fragen der Meinungs-, Medien- und Versammlungsfreiheit. Ferner habe ich als deutsches Mitglied der Venedig-Kommission des Europarats versammlungsrechtliche Fragen bearbeitet und intensiv an den von ihr erarbeiteten „Guidelines for Freedom of Assembly“ mitgewirkt. Sie sehen, die Erlebnisse aus jungen Jahren prägen und begleiten mich bis heute.
In Hinblick auf die gesellschaftlichen Veränderungen im Nachgang der 68er wird von einigen Politikern heute behauptet, es bedürfe einer „konservativen Gegenrevolution“…
Was diejenigen wie Alexander Dobrindt, die diese Worte wählen, damit bezwecken, ist mir nicht ganz klar. Allerdings hat die 68er-Studentenbewegung einiges in der Gesellschaft bewegt, zur Liberalisierung der Rechtsordnung beigetragen und den Ausbau sozialer Rechte befördert. Aber: Eine „linke Revolution“ war das nicht, erst recht keine, die nun mit einer konservativen (oder gar rechten) Gegenrevolution zu begegnen sei, die eine Antwort auch auf den wachsenden Rechtspopulismus geben könne. Aus meiner Sicht ist ohnehin problematisch, dass die Parteien und Medien sich so viel mit Themen befassen, die die AfD zu besetzen sucht. Das beeinflusst das Framing gesellschaftlicher Diskurse und stärkt eher die Aufmerksamkeit für rechtspopulistische Anliegen. Was mir außerdem Sorgen macht, ist die zunehmende Fragmentierung der gesellschaftlichen Diskurse. Der Wille, einen möglichst breiten Konsens zu erreichen, erodiert. Die Bereitschaft, sich um Konsense zu bemühen, aber ist eine Voraussetzung für das Funktionieren einer pluralen Ordnung.
Lale Meyer (Jg. 2012)
Constantin Glaesner (Jg. 2012)
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